Kurzinhalt
Die Teenagerin Lucy wird von einer Mädchengang im Internat seit Jahren gemobbt. Sie hat keine Eltern mehr und kann nicht reisen, schoppen und Geld ausgeben, wie ihre Mitschülerinnen.
In der Schutzengelmausbehörde sind einige Briefe mit Lucys Hilferufen archiviert, die bisher allerdings unbeachtet geblieben waren. Eine ungeheure Schlamperei, wie Archibald findet, dem die Briefe bei seiner Arbeit im Archiv in die Hände fallen. Er lässt nicht locker und wird schließlich entsandt um Lucy zu helfen. Es geht nach England - schon wieder England...
In Zusammenarbeit mit der großen einheimischen Mäusefamilie, wendet Archibald das Blatt: Die Mobbinggang und ihre Anführerin Antonella, genannt Anton, wird mit ihren eigenen Waffen geschlagen und mit jedem Rückschlag wächst der Rückhalt, den Lucy bei den anderen Klassenkameradinnen erfährt.
Als Lucy mit Hilfe von Archibald und seinen Freunden, Anton auch noch davor bewahrt, von der Schule zu fliegen, ist das Eis endgültig gebrochen. Aus „Feindinnen“ sind Freundinnen geworden und alle profitieren von dem neuen Zusammenhalt der Teenager. Im Verlauf der Geschichte gibt es auch ein Wiedersehen mit den Hauptfiguren des ersten Buches „Sir Percy“ - mit der Katze Caroline, Bernhard dem Hund, dem Falken Malteser und natürlich mit Sir Percy und seinem Butler.
Auszug aus Kapitel 1 - Hört mich jemand?
Der Himmel über England hing tief.
Die Wolken schoben sich in einem einzigen dichten Haufen von der Küste her übers Land. Nicht so, wie im Sommer, wenn die weißen Wolken wie Watteschäfchen über den blauen Himmel wanderten. Jetzt war Winter, jetzt waren keine kleinen weißen Schäfchen am Himmel.
Dieses Jahr war der Winter sehr streng, er wollte einfach nicht damit aufhören, ständig Frost zu schicken. Es gab auch keine klaren Tage, es gab nur kalte Tage. Es gab tiefhängende Wolken und einen eisigen Wind, der um die Häuserecken wehte. Die Felder und Wiesen waren alle mit einer dichten weißen Decke zugedeckt. Lucy konnte so nicht draußen spielen, denn sie hatte keine wirklich kuschelige und warme Winterjacke, die sie vor Wind und Kälte schützte.
Immer wenn Lucy glaubte, dass es jetzt endlich wieder wärmer werden würde, hatte der Winter in Wirklichkeit nur eine kleine Pause gemacht, um dann mit noch mehr Kälte zurückzukommen. Seit gestern Abend hatte er sich noch einmal richtig angestrengt. Er brachte jetzt keinen Schnee, er brachte Eisregen und alles versank unter einer Eisdecke. Der kleine See am anderen Ende des Grundstücks war schon lange zugefroren. Jetzt konnte man auch nicht mehr erkennen, wo das Land aufhörte und der See anfing. In der Schule hatte Lucy gelernt, dass die Winde vom Nordpolarmeer kamen, sie brachten Kälte und oft auch ganz viel Schnee, aber jetzt brachten sie auch noch Eis. Lucy seufzte. Sie beobachtete, wie sich glitzernde Eiskristalle auf der Fensterbank zu kleinen Eishaufen zusammenballten. Wenn dann eine starke Windbö kam, blies sie die kleinen Haufen wieder weg.
Lucy, oder vollständig Lucille Eleonor Tiny, saß auf der Fensterbank. Lucy hieß nicht nur Tiny, sie war auch wirklich klein. Für ihr Alter fehlte ihr mindestens eine Kopflänge. „Wie konnte man ein kleines wehrloses Baby bloß Tiny nennen, wie kam man auf diesen Namen?“, dachte sie. Sie hatte einen doofen Namen und wohnte in einem alten Waisenhaus im Norden Englands. Lucy zuckte mit den Achseln und seufzte leise.
Das Waisenhaus hieß ebenso, wie der Ort, in dem es lag: St. Johns Chapel. Das war eine Stunde von Newcastle entfernt, einer großen Stadt an der Ostküste Englands. Für Lucy war Newcastle so weit weg wie der Mond. Noch nie war sie in die Stadt gefahren.
Viele ihrer Mitschüler waren Halbwaisen. Sie durften wenigstens am Wochenende nach Hause fahren, wenn ihre Mamas oder Papas auch zu Hause waren. Manche der Eltern arbeiteten auf Bohrinseln oder fuhren mit großen Schiffen auf der Nordsee und dem Nordatlantik, um Fische zu fangen. Dann waren sie für ein paar Wochen fort und anschließend für ein paar Wochen daheim. Immer schön im Wechsel.
Andere arbeiteten im Süden Englands und hatten nur jedes zweite Wochenende frei.Lucy aber hatte niemanden, sie wurde nie abgeholt. Sie musste jedes Wochenende im Waisenhaus bleiben. Nur in den Ferien, in den großen Sommerferien, gab es eine dreiwöchige Urlaubsreise, die vom Heim organisiert wurde. Dann ging es immer an die Südspitze Englands, nach Cornwall, in die Sonne. Aber auch nur dann, wenn das Waisenhaus das Jahr über genug Spenden eingesammelt hatte, um die Reise auch bezahlen zu können. Die Spenden für diese Reisen wurden bei Theateraufführungen gesammelt oder auf den Frühlingsfesten, wenn die Osterferien begannen, und natürlich vor den großen Sommerferien.
Eine der schönsten Zeiten war Weihnachten. Dann rückten alle Menschen, die im Waisenhaus wohnten, enger zusammen. Zu dieser Zeit gab es keine Schule und man verbrachte die Tage mit Vorlesen, Basteln und vor allem mit Ausschlafen. So war es auch dieses Weihnachten gewesen. Aber jetzt, Ende Februar, war das alles schon lange her.
Lucy war zehn Jahre alt und besuchte die vierte Klasse. Diesen Sommer musste sie sich bei den Prüfungen besonders doll anstrengen, denn dann würde darüber entschieden werden, ob sie künftig die höhere Schule besuchen dürfte. Das wiederrum würde bedeuten, dass sie jeden Tag in die nächste größere Stadt fahren müsste und endlich mal das Heim verlassen könnte. Sollte das nicht klappen, würde sie auch die nächsten Klassen in St. Johns Chapel besuchen müssen.
St. Johns Chapel jeden Morgen zu verlassen, bedeutete vor allem auch, von Antonella wegzukommen. Für Lucy die gemeinste Mitschülerin. Antonella oder Anton, wie sie genannt wurde, war mehr als einen Kopf größer als Lucy. Sie hatte hellblaue Augen und rotblondes Haar. Lucy war sich sicher, dass genau SO Hexen aussehen müssten. Anton hatte sich Lucy zu ihrem persönlichen Ziel aller Gemeinheiten ausgesucht. Manchmal mopste sie sich etwas von Lucys Essteller, kaute kurz darauf herum und spuckte es dann wieder zurück auf den Teller. Dann sagte sie immer, dass es von Lucys Teller eklig schmecken würde.
Wenn nach dem Sport Schuhe, Strümpfe oder Pullover verschwunden waren, hatte garantiert Anton sie weggenommen und versteckt. Meist fand Lucy sie dann im Baum vor der Turnhalle und musste barfuß nach draußen, um sich alles wiederzuholen. Natürlich unter dem Gelächter der anderen Mädchen, die Anton um sich versammelt hatte.
Auszug aus Kapitel 3 – Im Archiv
Eines Nachmittags zog Archibald aus dem „riesigen Berg“ von drei Zetteln (so hätte Old Blue Eye ihn genannt) einen Zettel heraus. Eine Lucy bat um Hilfe. Die Situation sei noch schlimmer geworden, und sie habe wirklich Angst vor Anton. Die Gemeinheiten nähmen zu. Archibald begann, den Brief zu archivieren. Zielort war England. England, dachte Archibald, wie gerne würde ich mit Bernhard am Kamin liegen und Sir Percy beschützen. Er dachte an Caroline und wie sie ihm gezeigt hatte, eine E-Mail zu schreiben. Er schüttelte die Gedanken ab. England, Ortschaft St. Johns Chapel, Waisenhaus. Er zog die Kiste aus dem Regal, darin war nur eine Akte, voll mit Briefen, alle von Lucy.
Er las auf dem Aktendeckel:
Name: Lucille Eleonor Tiny
Ortschaft: St. Johns Chapel, Waisenhaus
Geboren: 2011
Einsätze: Null
Erfolgreich: Null
Archibald überlegte: Ein fast zehnjähriges kleines Mädchen in einem Waisenhaus schrieb seit drei Jahren Briefe. Anscheinend konnte sie seit drei Jahren schreiben. Archibald holte die Kiste ganz heraus. Er fand unzählige Briefe.
Archibald schaute auf den restlichen „Berg“ von zwei Zetteln, wischte sie in eine Schublade und leerte die Kiste mit der Aufschrift Lucille Eleonor Tiny auf den Tisch.
Vor ihm türmte sich jetzt wirklich ein Haufen von Zetteln. Darauf standen Vermerke, wie „Opferlicht Kapelle“, „Flaschenpost Süd-England“, „Luftpost Rettungsdienst“. Manche Briefe waren ungeöffnet, sie trugen eine Notiz, die irgendjemand darauf geschrieben hatte.
„Konnte nicht kontrolliert werden, Ablage im Archiv!“
Niemand hatte sich die Akte angeschaut, niemand hatte sich dafür interessiert. Stattdessen wurde immer nur der neue Brief auf den letzten Brief geheftet. Archibald schüttelte den Kopf: Das konnte nicht richtig sein. Warum hatte niemand die Hilferufe eines kleinen Mädchens kontrolliert? Wie lautete der erste Artikel des Ehrenkodex der Schutzengelmäuse? Jeder Mensch und jedes Tier hat ein Recht auf den Schutz der Behörde. „Klarer geht es ja wohl kaum“, dachte Archibald. Er nahm die Akte mit an seinen Schreibtisch und begann jeden einzelnen Brief zu lesen.
Lucy Tiny, Archibald schmunzelte über den Namen, erzählte ihre Geschichte. Mit jedem Brief war Archibald erschrockener, dann wurde er wütend. Lucy schilderte in ihren Briefen, die per Flaschenpost, Brieftaube oder Rettungsflieger in die Behörde kamen, was für ein trostloses Leben sie hatte. Sie wurde gehänselt, man beklaute sie, und ein Schüler hatte es wohl besonders auf sie abgesehen, er hieß Anton. Nur der Tee am Sonntag versprach etwas Ruhe. Archibald zählte vierundfünfzig Briefe, nein, besser vierundfünfzig Hilferufe. Und es war nichts passiert. Jetzt wurde er richtig wütend. Er nahm die Akte unter den Arm und verließ sein Büro. Auf einem Brett, das er sich selbst gebastelt hatte, stand in großen Buchstaben:
KOMME GLEICH WIEDER
Auszug aus Kapitel 7 – Wieder in England
Während er so nachdachte, wie seine nächsten Schritte wären, hörte er ein Flüstern: „Aarchibald! Aaaarchibald, bist du da? Bist du gelandet?“
Archibald war klar, dass er mit seinem Umhang, den er hochgeschlossen trug, schon tagsüber nicht zu sehen war, nachts aber, bei Schneefall, erst recht nicht. Also trat er aus dem Schatten der Wand und versuchte, in der Dunkelheit den Rufer zu finden.
Das Einzige, was er schemenhaft erkennen konnte, war ein Vogel, der irgendwie komisch aussah, und zu Fuß durch den Schnee stapfte, statt wie ein Vogel zu fliegen. Er war deutlich kleiner als ein Falke, hatte einen buschigen Federkranz um den Hals und einen schwarzen Kopf. Rote Beine und ein braunes Federkleid.
„Hier bin ich“, sagte Archibald. „Bleib stehen und erklär mir, was du willst.“
„Ich bin der flinke Freddy, der Falke aus der Rettungsstaffel, der hier eingesetzt ist.“ Archibald traute dem Vogel nicht, Malteser sah ganz anders aus. Größer, dunkleres Gefieder und keinen weißen Puschelfederhals. „Du bist kein Falke, also, wer bist du?“, wollte Archibald wissen. „Ich bin ein Fledermausfalke, ein Ikliz, so werde ich auch genannt.“
„Du bist ein was?“
„Ich bin ein Ikliz.“ Der komische Vogel versuchte, sich ein wenig aufzurichten, damit er größer aussah. „Woher kommst du?“, wollte Archibald wissen. „Meine Heimat ist Mexiko, aber als ein Austauschprogramm für Rettungsfalken geplant wurde, habe ich mich beworben. Ich wurde angenommen und landete in England. Was man mir verschwiegen hatte, war, wie kalt es hier ist. Das ist ja so gemein und nun hänge ich hier fest.“
„Warum kannst du nicht zurück?“, wollte Archibald wissen. „Mein englischer Austauschkollege hat die Tochter vom obersten Chef der Flugrettung in Mexiko geheiratet. Jetzt lehnt der einen Rücktausch ab. Ich sitze schon den dritten Winter hier und friere.“ Archibald fand das nicht glaubwürdig.
„Kennst du alle Kollegen hier in England?“, wollte er wissen. Freddy verneinte. Er kenne nur die direkten Nachbarn. „Kennst du den VVV?“ Freddys Miene hellte sich auf: „Na klar, den Verein Vleischloser Viecher, ein Kollege von mir ist da Mitglied. Malteser, er ist mein südlicher Nachbar.“ „Malteser ist hier in der Nähe?“ Archibalds Herz begann zu klopfen. „Eine knappe Flugstunde“, antwortete Freddy. Freddy sah in Archibalds Richtung. „Du kannst die Mütze abnehmen, ich fresse dich schon nicht. Ich soll dir zeigen, wo Lucy wohnt und dich dorthin bringen.“ Langsam streifte Archibald die Mütze vom Kopf und ging auf Freddy zu. Er streckte ihm die Pfote entgegen und sagte: „Hallo Freddy, ich bin Archibald, schön, dass wir uns kennenlernen. Dann sag mir doch mal bitte, wo die Lucy wohnt.“ Freddy gab ihm den rechten Flügel und begrüßte ihn ebenso. „Steig auf meinen Rücken, ich fliege dich hin. Bist du schon mal mit einem Falken geflogen?“ Archibald überlegte kurz: „Also nicht bewusst, aber man hat mir erzählt, dass das schon mehrfach notwendig war.“ Mit Archibald auf dem Rücken erhob sich Freddy und kreiste ein paar Runden über dem Kinderheim. Dabei zeigte er Archibald den Haupteingang, den Übergang zur Schule, die Küche und dann die Schlafzimmer der Kinder.
„Und wo wohnt dieser Anton? Das muss ja ein fieser Typ sein“, sagte Archibald. „Ein fieser Typ? Nee, nee, Typen gibt es hier nicht, hier wohnen nur Mädchen.“
„Bist Du sicher?“ Archibald schaute fragend auf Freddy. „Ganz sicher, hier wohnen nur Mädchen, aber es gibt eine Antonella, die ist wirklich besonders.“ Mit diesen Worten landete Freddy auf einem breiten Mauervorsprung. Archibald drehte sich noch einmal um: „Vielen Dank für deine Hilfe. Und, sag mal, Freddy, woher wusstest du, dass ich genau heute Abend hier ankomme?“ Freddy ignorierte die Frage: „Schau durch das Fenster, da schläft Lucy. Ich setze mich da hinten unter den Busch und passe auf. Da friere ich hoffentlich weniger.“
Archibald schaute durch das Fenster und sah ein kleines Mädchen in einem riesigen Bett schlafen. Leise murmelte er: „Hallo, Lucille Eleonor Tiny. Deine Post ist angekommen und jetzt auch gelesen worden. Tut mir leid wegen der Verspätung, aber jetzt wird alles gut.“